“Sei klug und halte dich an Wunder”

“Irgendetwas muss doch in diesem verf***ten Jahr mal funktionieren”, maulte mein Bruder, als er mich am Frankfurter Bahnhof mitten in der Nacht abholte. Dort war ich nach einer wahren Odyssee mit der Bahn in der Nacht vor Heiligabend gestrandet.

So Mitten in der Nacht – der volle Mond grinste über dem Bahnhof – steht man als Frau nicht, ohne dass es zu Kontaktversuchen kommt. Der Erste hatte Hunger nach etwas menschlicher Wärme – eine einsame Seele in einem Straßenmeer. Aber ich wollte niemanden kennen lernen, sondern einfach nur weiter – in ein helles Wohnzimmer und wärmendes Bett. Der Zweite hatte physischen Hunger. Ich drückte ihm etwas Geld in eine Hand, die in zerlöcherte Handstulpen gehüllt war.

Nach diesen zwei Kontaktversuchen und drei Zigaretten war mein Retter da.

Am nächsten Tag stieg das Familienfest, mit leckerem Essen, langen Spaziergängen – und einer anschließenden Grippewoche. Alle weiteren Reisepläne gecancelt, stattdessen Spaziergänge mit meinem Bruder und ein stilles Silvester mit zwei Vier- und zwei Zweibeinern.

Mein Motto fürs neue Jahr:

“Zerreiß deine Pläne. Sei klug

und halte dich an Wunder.

Sie sind lang schon verzeichnet

im großen Plan.

Jage die Ängste fort

und die Angst vor den Ängste.”

Das fand ich bei einer klugen Frau – Mascha Kaléko.

Welkoam iip Lunn

Im Westen steht das letzte Tageslicht.

Eine Amsel singt noch ein schnelles Lied.

Derweil zieht im Osten die Nacht hoch –

la Luna leuchtet prall den Felsen aus.

Nachts in klaren Nächten verweilt Orion neben dem Kirchturm.

Heute kommt eine lang ersehnte Frau auf der Insel an.

Noch stampft die Helgoland durch den Dunst. Kommt sie wirklich?

Die Bänke an der Binnenreede sind winterleer.

Ihr Partner organisierte ein Empfangskomittee und zwanzig Minuten später dröhnt das Schiffshorn durch den Hafen.

Sie ist da – und der Felsen hat eine neue Mitbewohnerin.

Ich denke an T.…..und den Tag, als ich das erste Mal hier ankam.

Drinnen und draußen

Drinnen liegt nicht nur mein Schreibtisch voll mit Arbeit.

Auch der Kopf ist voll.

Ich gehe nach draußen.

Kein tolles Sonnenwetter wie gestern

– ein wenig diesig verhangen ist die Welt um mich herum.

Im Draußen klärt sich die inwändige Welt, kommt zur Ruhe ….

der Felsen ist wie immer.

Die Basstölpelkolonie wächst

und die ersten Lummen drücken sich an die Klippe und wärmen sich gegenseitig.

Sollten wir Menschen es ihnen nicht gleich tun?

Der Krieg verroht alle Seiten – warum dürfen die ukrainischen Männer nicht einfach gehen und sich um ihre Familien kümmern?

Jemand hat einen Ruf in die Welt gesetzt

Ich halte Zwiesprache mit T.

und wir bewundern gemeinsam den Flug der Basstölpel – wie früher.

Als junge Frau schrieb ich an Häuserwände:

‘Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.’

Wozu sind Kriege da?

Der Weg unter meinen Füßen

Anfang März war ich für eine Woche auf dem Festland.

Es ist keine Spaßreise wie sonst.

Wie sonst, wenn im Frühjahr der Zugvogel in mir erwacht und leise singt: “Lass’ mich ziehen! Lass’ mich fliegen!”

Diesmal habe ich etwas zu erledigen.

Der Felsen versinkt sofort hinter einer Nebelwand. Eine Kultschmonzette aus den 80ern, ‘The Mists of Avalon’, fällt mir wieder ein.

Ich kann gut alleine reisen. Aber es war schöner zu zweit. Ich denke an den Menschen, der mich geliebt hat – und die Dunsttröpfchen vermischen sich mit körpereigenem Salz.

Im Bahnhof von B. zieht die globalisierte Welt an mir vorbei.

Eine kleine blonde Frau fragt, ob der Zug nach D. wirklich fährt. Ich bejahe, suche die Abfahrtszeit noch einmal heraus. Sie erzählt, dass sie ihre Kinder seit Jahren zum ersten Mal sehen wird. Der Ex – und so: “….was Männer alles tun!” – Ich seufze verständnisvoll und denke: Hach, es gibt auch andere…..

Werden und Vergehen liegen nahe beieinander:

Die letzten Reste eines Menschen werden an ihren Platz gebracht und verabschiedet. Unter *******-Bedingungen wird dieser Anlass noch stiller. –

Ein Kindergeburtstag wird gefeiert. NEIIINNN- kein Kinderkontent !!!

Ein Einkauf führt uns zu einer Straße, die ihre letzten Bäume verloren hat. –

OH jaaa – es gibt sehr viel mehr Gründe zu trauern, als über einen persönlichen Verlust ….

z.B. den Zustand der Welt……

Und daneben liegt die pure Lust am Leben:

Auf der Rückfahrt – die letzte Etappe ist immer das Schiff. Zu zweit war es ein Fest: Tirili, tririla, wir fahren nach Hause.

Ich schließe die Tür auf. Die Wohnung ist nicht leer ….. angefüllt mit Atmosphäre.

Ich fühle mich zuhause aufgenommen.

Mal ganz unter uns

Tja, jetzt sind wir Insulaner wieder ganz unter uns.

Das kommt immer mal wieder vor in den Wintermonaten, allerdings bisher nicht aufgrund offizieller Verfügungen und Verordnungen.

Wer aufs Festland fährt, muss vor der Rückkehr (oder ersatzweise sofort nach der Ankunft auf dem Felsen) einen C*r*na-Test machen lassen. Zum Vergnügen wird zur Zeit wohl niemand eine solche Reise antreten.

Nachmittags sitze ich an der winterfest verbarrikadierten Landungsbrücke, und lese ein wenig in dem gerade eingetroffenen Buch. Neulich hatte ich einen abendlichen ZVAB-Kaufanfall.

Es ist ungewöhnlich still, weil die Tiefdruckgebiete des Winters sich gerade westlich Spaniens über dem Atlantik austoben. Auf einem Balkon des “Hüs Weeterkant”, in dreihundert Meter Entfernung, reißt ein Handwerker ein Stück Klebeband von der Rolle. So still ist es.

Pustekuchen

Gestern sollte die Abreise der Urlaubsgäste beginnen, aber die Nordsee war anderer Meinung.

Windstärke acht und vier bis fünf Meter Wellenhöhe, da fährt die “Fair Lady” vorsichtshalber nicht mehr. Das Schiff würde das aushalten, aber die die Passagiere, na ja

Also gut, zwei weitere Inseltage für die letzten Gäste, denn das nächste Schiff fährt erst morgen.

Ein weiterer Grund, hier keine Infektionskette haben zu wollen. Das Inselkrankenhaus käme dann ziemlich schnell an sein Limit und eine Verlegung von Patienten aufs Festland wäre schwieriger als anderswo.

Die Lage

Gestern wurden die Masken verteilt, die die Gemeindeverwaltung geordert hatte.

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Auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hat eine bekommen. Er ist ja schon 222 Jahre alt und gehört bestimmt zur Risikogruppe.

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Ob Bären infektionsgefährdet sind? Wer weiß? Er kriegt vorsichtshalber ebenfalls eine Schutzmaske.

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Das Wetter: Passend. Alles ein bisschen blass um die Nase.

Habe heute dem Finanzamt meine Gewinnabschätzung für dieses Jahr zugesandt. Vielleicht kommt ja in ein paar Tagen ein Brief mit ein paar kleinen Banknoten und einer Notiz: “Junge Junge, das sieht ja echt sch…e aus. Wir haben mal eine kleine Spendensammlung veranstaltet. Viel Glück.”

Ob Galgenhumor hilft? Na ja, er schadet jedenfalls nicht.

Nacht

Gestern Abend lief ich los, um mir den aufgehenden Vollmond anzusehen. Es geht wieder dem Sommer entgegen und um 22 Uhr ist im Nordwesten noch blaue Stunde.

Es ist völlig still. Die Zeit der Winterstürme ist vorbei und Gäste kommen natürlich auch keine hierher.

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Dann gehe ich weiter in Richtung Südklippe, denn der Mond wird in Ost-Süd-Ost erscheinen.

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Über dem Horizont liegt eine Wolkenbank, also dauert es eine halbe Stunde, bis er ganz sichtbar ist.

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Ich mache ein paar Aufnahmen, lasse es dann sein und schaue einfach nur. Meine Taschenknipse ist dieser Situation nicht wirklich gewachsen, aber ob eine bessere Kamera das wäre?

Vielleicht lässt sich das, was mich in solchen Momenten bewegt, überhaupt nicht fotografieren.

Was das ist?

Ich lebe meistens in einer Welt, die von meinesgleichen erbaut wurde. In dieser Welt können wir uns für groß und wichtig halten.

Es gibt aber Augenblicke, die mir zeigen: Stimmt nicht. In Wirklichkeit bin ich sehr klein.

Vor einiger Zeit sind Menschen unter riesigen Gefahren und Entbehrungen zu diesem leuchtenden Ball hingeflogen. Da war ich noch ein kleiner Junge und natürlich völlig fasziniert. Die meisten dieser Zwölf leben inzwischen nicht mehr. Und eigentlich waren wir nur wie ein Kind, das mit dem ersten Rad mit Stützrädern im Garten im Kreis fährt.

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Dann gehe ich wieder nach Hause, denn Fe wartet sicher mit dem Essen.

Der Mond steht schon über dem Kirchendach. Und Nacht heißt eigentlich nur, dass die Sonne gerade in Australien scheint.

Aussichten

Die Sturmsaison gab noch einmal alles.

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Dann wurde es endlich etwas stiller und die Zugvögel, die um diese Jahreszeit hier auf dem Felsen zwischentanken, kamen wieder zum Vorschein.

Einer sitzt morgens in der Palme vor dem Wohnzimmerfenster und sieht uns beim Frühstücken zu.

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Normalerweise ist das auch die Jahreszeit, in der der Insulaner allmählich aus dem Winterschlaf erwacht und sich mit ein paar Kniebeugen für die neue Saison fit macht.

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Daraus wird aber fürs Erste nichts werden.

Es ist sowieso still in den Straßen im März, aber heute fühlt sich die Stille anders an. Und bald wird es noch stiller sein. Natürlich ist das für die Insulaner, die größtenteils vom Tourismus leben, ein zusätzliches Desaster.

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Und doch: Die Leute vom Inselmarkt haben sich bereit erklärt, den Inselsenioren ihre Bestellungen nach Hause zu liefern. Und Helgoland ist und bleibt der Ort, an dem man den Kram vor die Tür stellen kann. Da bleibt er dann auch, bis der rechtmäßige Besitzer ihn ‘reinholt.