…und zwischendurch gab es mal Frühling….

Zur Zeit wechselt das Wetter zwischen Regen, Schneetreiben, Windheulen –

dazwischen ein paar Stunden Sonne –

vielleicht damit man nicht vergisst, dass es bereits Mitte März ist.

Noch vor zwei Wochen wirkte der Felsen so, als ob die Natur erwachen wollte.

Jetzt werden wohl nur ein paar Holztulpen wie in Amsterdam vorläufig für Farbe sorgen.

Die Saison läuft dennoch langsam an. Stühle werden nach und nach herausgestellt.

Noch dürfen die Kinder Rad fahren. Das findet hier nur im Winter statt. Denn im Sommer sind die Gassen so voller Menschen, dass selbst den Kindern Rad fahren verboten ist.

Hinter mir spielen die Kinder Krieg – nachgeahmte Pfeif- und Zischtöne schwirren durch die Luft – Ansagen, wer nun getroffen ist, heftige Proteste.

Ein paar tausend Kilometer weiter östlich tun das Erwachsene seit einem Jahr. Vor kurzem fand ich einen Brief an Putin mit guten Vorschlägen zum Friedenschaffen.

Noch immer hängt ein alte Jacke an meiner Garderobe.

Manchmal streiche ich über sie. Ts Duft ist lange verflogen – so fragil und vergänglich.

Das Leben wechselt zwischen Schneetreiben, Windheulen und ein paar Stunden Sonne.

Und die sind aller Mühe wert.

Sie sind wieder da!

Ja – DIE –

Doch der Reihe nach:

Trübe Tage wechseln mit Sonnenstunden.

Der Felsen liegt im Winterschlaf,. So scheint es.

Doch hinter den Kulissen werden Kleinigkeiten, die in der Saison kaum wahrgenommen werden, inselweit diskutiert. Die Helgoländer langweilen sich – und drehen nicht nur Däumchen, sondern lassen ihn über die winzige Tastatur ihrer Handys laufen, haben zu allem, was sie während der Saison nicht interessiert, eine Meinung.

Ja – ist schon erstaunlich.

Währenddessen dreht sich die große wie die kleine Welt weiter. Ende Januar sind die ersten Lummen da – und schauen nach, ob noch alles steht.

Tut es, und so sind sie geblieben. Was die großen Zweibeiner tun, interessiert sie wenig.

Und jetzt, Mitte Februar, haben ein paar Basstölpel den Weg hierher geschafft – und bleiben. Yippie!

H., der alte Hafenmeister, erzählt mir die Geschichte der Basstölpel:

“Vor ca. 15 Jahren kam ein Pärchen hier an und zog ein Junges groß. Das Junge versuchte, als es herangewachsen war, zu fliegen. Aber es hatte sich in dem Netz verfangen, mit dem die Eltern das Nest so fein ausgepolstert hatten. So hing es in der Klippe und starb vor sich hin. Eine Gruppe von jungen Bergsteigern und einem Hubschrauberpiloten hatten davon gehört und holten sich die Erlaubnis, sich von der Klippe abzuseilen, um das Junge zu retten.

Ja – das gelang. Man trug es zur Vogelwarte. Der erste Basstölpel, der auf Helgoland geboren war, wurde beringt. Dann schnell zurück an den Klippenrand – man wollte noch vor Sonnenuntergang mit dem Hubschrauber zurück. Dort setzte man es ab, damit es zu seinen Eltern flöge. Aber, es konnte nicht fliegen – und brach sich alle Knochen.

Dennoch – im nächsten Jahr kamen zwei Paare, dann acht, dann Jahr für Jahr mehr.”

Unter Basstölpeln hatte sich herumgesprochen, dass man hier seine Eier nicht vor übermütigen Zweibeinern schützen muss – wie etwa auf den Orkneys.

Von der Pandemie zeugt nur noch ein Schild am Fahrstuhl

– von der Vogelgrippe nur noch ein Warnschild an den Vogelfelsen.

Bald – am ersten März – feiern die Helgoländer die Freigabe Helgolands für die Neubesiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist hier der größte Feiertag – wichtiger als Weihnachten und Ostern zusammen.

Dann – kurz danach – beginnt wieder die Saison – und die große Aufregung um kleine Ereignisse wird ein Ende haben. –

Menschen sind schon komisch – oder? – Schütze mich vor diesem Fluch …

Lazy Sunday

Es ist das erste veritable Sommerwochenende. Während man auf dem Festland stöhnt und vor Hitze in den Großstädten gewarnt wird, weht hier ein komfortables Lüftchen. Zum ersten Mal in diesem Jahr ist es draußen wärmer als drinnen und man kann ohne Jacke das Haus verlassen.

Unter meinem Fenster höre ich neben knarzenden Rollkoffern oder quietschenden Bollerwagen englische und holländische, dänische oder tschechische Laute, manchmal auch Hamburger Singsang, breites Sächsisch oder badisches Plaudern.

Der Rhythmus der Insel ist bestimmt durch An- und Abreisen.

Die Insulaner haben während der Saison kein Wochenende.

Saison bedeutet, dass durchgearbeitet wird. Das ist in Teilen auch bitter nötig, denn während der letzten ‘Corona’-Jahre sind die Rücklagen mancher Geschäftsleute ziemlich dahingeschmolzen.

Die Schnucken halten Mittagsschlaf.

Am Horizont zieht der Rest des nächtlichen Unwetters langsam ab.

Heckenrosen entfalten ihre filigranen Blätter,

während Disteln die ersten Blüten austreiben.

Die lange Anna und der Lummenfelsen ‘gehören’ jetz fast ausschließlich den Gästen.

Bei den Basstölpeln ist Babyzeit.

Noch sind nicht alle geschlüpft. Noch ist Zeit für ein Ei

und Zärtlichkeiten

oder ein Mitbringsel zum Nestplostern.

Manche dagegen haben schon echte Bratzen, die ihre Eltern langsam aus dem Nest drücken.

Am Horizont parken die Geisterschiffe – Containerburgen, die vor der Küste auf Reede liegen, um in den Hamburger Hafen eingelassen zu werden. Heute zähle ich 28.

Manchmal ist es beruhigend, dass in dieser Welt, die sich gerade so schnell verändert,

einiges gleich bleibt und seinem Gang folgt.

– der zweite Sommer ohne T.

…. comptine d’un autre été ….

Sentimental journey – Odenwald

Zwischenstopp in D. –

umständehalber fällt der Besuch nur kurz aus.

Dann geht es weiter in den Odenwald – Übernachtung bei Sohn und Tochter…….

Auf dem Rückweg halten wir in L, einem kleinen verschlafenen Ort im Odenwald, an.

Hier lebte ich einmal in den 60ern für ein paar glückliche Monate.

Wir laufen durch das Städtchen zur Burg.

Auf dem Weg dahin auffällig viele Drachenskulpturen.

Kurz unter der Burg wird das Rätsel gelöst:

Es hat hier ein Drachenmuseum –

mit Garten:

Die Burg an dem Tag in Wolken gehüllt.

Als ich zum Turm der Vorburg hinauflaufe, erinnere ich, wie mein Bruder und ich hier hochstürmten, während meine Mutter den Kinderwagen mit meiner Schwester hinterschob. Jedes Mal ‘eroberten’ wir auf diese Weise die Burg, blickten auf das Tal Richtung F. wie auf ‘unser’ Land. Es war ‘unser’ Land und unsere Zeit in einem anderen Sinne …. eine mystische Zeit…

Aber vielleicht erscheint jedem Menschen die Kindheit mythisch, in Zeitdimensionen entrückt, die wir nicht fassen können…

Oben –

fast als wäre die Zeit stehen geblieben –

und als stehe sie gerade wieder still.

Kalender sind nur ein menschliches Werkzeug, um uns im zeitlichen Raum zu orientieren, damit wir Ereignisse ordnen, Anfänge und Enden bestimmen können. Das entspricht unserem Wesen.

Es gibt Zeitzyklen – nur anders als wir uns das denken.

Ein letzter Blick zurück – ich hätte T. gerne den Ort gezeigt –

bevor wir in die Großstadt zurückkehren.

Es ist der 28.12., der Geburtstag von T.

Zeitreise

Es braucht keine komplizierten Zeitmaschinen, um in eine Vergangenheit einzutauchen. Manchmal reicht ein Lidschlag – zumindest bei mir – und es entsteht eine ferne Welt….

Hier bin ich aufgewachsen. Wir lebten zum Schluss zu sechst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, Toilette auf dem Treppenabsatz, Ofenheizung. Das Treppenhaus roch nach Bohnerwachs. Wir wohnten unter dem Dach.

Meine Eltern schämten sich ihrer Armut. Deshalb gibt es kein Bild aus Kindertagen von diesem Haus. Wir waren dort die einzigen Kinder. Es wohnten hier – gefühlt – nur alte Leute, darunter unsere Nennoma.

Ich vermisste als Kind dort nichts – außer einer Lederhose und mehr elterlicher Liebe. Aber meine Eltern gehörten zu einer Generation, der das Lieben ausgetrieben worden war – ‘zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl …’. Sie kannten nur den ‘hohen Ton’ der Liebe, gewaltige Wortgebäude ohne Inhalt, nicht aber die tägliche Zärtlichkeit, die liebevolle Umarmung, den Kuss zum Abschied…. Hach ja!

Wir spielten auf der Straße. Der Hof war noch vollgebaut mit alten Verschlägen und oft hing dort die Wäsche zum Trocknen – also lernte ich auf der Straße Rollschuh fahren, Fahrrad fahren, auf dem Mäuerchen balanzieren.

Gummitwist mit Bruder und Mülltonne, das ging im Hof.

Diese Straße markierte zunächst die Grenze unseres Spielplatzes. Sie war damals – in der Zeit der autogerechten Stadt – eine vielbefahrene Durchgangsstraße.

Wir strolchten über Trümmergrundstücke, die für uns verwunschene Gärten waren. Wurden von den Nachbarn gejagt, wenn man uns erwischte. Später – da gingen wir schon in die Schule – büchsten wir aus und eroberten uns nach und nach die Stadt, am liebsten aber den Weg zum Wald. Dort wurden wir Indianer, schlichen durchs Unterholz, bauten Waldhütten aus alten Ästen um einen Stamm herum.

Zwei Kirchtürme überragten meine Kindheit. An dem einen lernte ich die Uhr zu lesen.

In die andere Kirche gingen wir jeden Sonntag.

Mit ca. 9 oder 10 Jahren schickte mich die Mutter zum Einkaufen in die Innenstadt. Ja, heute würde man das nicht mehr tun. Aber damals – mehrmals lief ich am Kantplatz beinahe in ein Auto. Ich erzählte mir immer Geschichten, wenn ich zum Einkaufen in die Stadt musste, hatte deshalb sozusagen zwei Bildschirme an, manchmal auch nur den meiner Geschichte.

Ich hatte Glück. Die Erwachsenen bremsten für mich.

Jetzt trinken dort junge Eltern und Studenten einen Latte, wenn nicht gerade ******* ist.

Der Laden, in dem wir ganz früher – noch bevor wir in die Schule gingen – einkauften, ist heute eine Kneipe.

Dort, wohin ich mit der Mutter zum Mangeln der Bettwäsche ging, findet man eine Hinterhofidylle.

Die Einheimischen nennen das Quartier liebevoll ‘Watzevertel‘. Hier befand sich der Stall des städtischen Ebers – des Watz -, der die Schweine zu bespringen hatte.

Den Faselstall gibt es noch. Einiges ist hier arrangiert – und neben Gabriele Wohmann wohnt Khalil Gibran.

An der Grenze zur Innenstadt steht ein Kongresszentrum. Man hat sich mit dem neuen Stil – ‘Neokonstruktivismus’ – nicht angefreundet – vielleicht doch zu neu konstruiert?

‘Scheppschachtel’ heißt es im Volksmund.

Aber man kann den Himmel über der Stadt fast anfassen.

Und schon Teil der Innenstadt ist die ‘Krone’. Ja, die Krone. Im Frühjahr 78 feierte ich hier meine Abiklausuren.

Ich bin hier nicht mehr zuhause. Ich habe nirgendwo Wurzeln geschlagen.

Und wenn meine Brüder nicht hier lebten, käme ich auch nicht zurück – trotz allen Charmes.

18. April

Heute ist in Berlin ein Gedenktag für die fast 80.000 Menschen, die bisher an oder im Zusammenhang mit Corona gestorben sind. Nicht gezählt sind diejenigen, die unter Coronabedingungen verstorben sind.

Für die Insulaner hat der 18. April noch eine andere Bedeutung.

Am 18. April 1945 wurde die Insel so bombardiert, dass kein Stein auf dem anderen blieb.

Am 19. in der Nacht folgte die Evakuierung der Frauen, Alten und Kinder.

Zwei Jahre später – am 18. April 1947 – sprengen die Briten 6700 Tonnen Sprengstoffe in die Luft. Es sind Granaten, Raketen, Munition – Überreste des Krieges -, die hier zusammengetragen worden sind. Die Festungsanlagen auf Helgoland sollen endgültig vernichtet werden.

Die Südspitze Helgolands versinkt teilweise im Meer. Das Mittelland entsteht mit seinem Riesenkrater. Die Inseloberfläche wird zu einer Narbenlandschaft.

Als ich im Sommer 2016 zum ersten Mal durch das Oberland zur Langen Anna gehe, habe ich ein déjà vu. –

Mehr als 30 Jahre früher trampte ich durch Lothringen. Es waren Apriltage wie dieser heute – sonnig, frisch, noch nicht schwül, kühler Wind. Ein Käfer hält an. Der Fahrer, er mag damals irgendwo in den 40ern sein, winkt uns in seinen Wagen. Wr unterhalten uns in einer Mischung aus Deutsch und Französisch. Er hat schnell heraus, dass wir Deutsche sind.

Ich betrachte die Landschaft. Merkwürdig geformt, hier plötzlich ein Loch, dort ragt eine Art von Wall, ein sehr schmaler Hohlweg führt seitlich von der Straße ab. Alles ist gnädig überdeckt von Wiese, kleinen Hainen. Der Fahrer spürt mein Interesse, fragt: “Sie wissen, was das ist?” – “Ich schüttele den Kopf. – Seine Augen verändern sich, bekommen einen härteren Ausdruck. – “IHR müsstet das doch wissen.” – Seine Stimme ist brüchiger geworden. Ich schaue fragend. “Das seid ihr gewesen – mit EURE Batteries, EURE Tanks.” – Mir wird kalt. Ich rutsche tiefer in meinen Sitz – und ich sehe plötzlich, was ich sehe: Krater, Stellungsgräben, Wälle. – Ich fange an, mich zu schämen – für meinen Großvater, der weiter südlich im Elsass stationiert war als junger Mann, für meine deutsche Herkunft. Ich will das ‘IHR’ nicht, – und doch: Es sitzt mir auf dem Schoß, es sitzt mir am Herzen. Die Geschichtslektion dauert noch an, bis wir in Bar-le-Duc sind. Wir steigen aus, bedanken uns – trotzdem oder vielleicht gerade deswegen?

Zum Schluss: “N’oubliez pas!” Damit werden wir entlassen. –

Mein Großvater ist nicht freiwillig in den Krieg gezogen – und – so sagt die Familienlegende – er wäre gerne im Elsass geblieben. Denn da gab es ein Mädchen…

Er kehrte mit Kriegsende zurück. Er hatte Glück gehabt. Und heiratete eine Frau, die ein Kind mit einem französischen Kriegsgefangenen hatte.

Ich habe die Lektion von damals nicht vergessen. –

Und sah die gleichen Narben wieder.

Und sehe sie jeden Tag.

Im Krieg kann keiner gewinnen –

n’oubliez pas.

Kleine Welt

Es gibt keine großen Neuigkeiten zu berichten. Nous sommes embarqués.

Bei der Nachbarin gibt es wieder “Segen to Go. Diesmal sogar mit QR-Code!

Der zeigt, Surprise, Surprise, auf die Webseite der Kirchengemeinde.

Ansonsten waren wir noch Fressalien kaufen. Sensation!

Fe bastelt an den Unterrichtsmaterialien für die kommende Schulwoche herum und ich verbreche mal wieder einen Auto-Testbericht. Ich schreibe jetzt aber nur noch über Nostalgie- und Elektro-Karren.

À propos Nostalgie: Gestern habe ich in meinem Foto-Archiv gekramt und mal kurz nachgerechnet: Seit 2014 lebe ich hier, also seit sieben Jahren.

Das hätte ich mir ursprünglich nicht erträumen können. Ich hatte einfach auf ein ziemlich ungewöhnliches Stellenangebot geantwortet und dachte, naja, dass das nicht mehr als ein bezahlter Arbeitsurlaub auf der Insel werden wird. Ein Jahr, maximal.

So kann man sich täuschen.

Und wieder täuschen. Undsoweiter.

Eines Tages fangen dann die Insulaner an, mit dir zu reden und sagen so etwas wie: Na, du bleibst wohl wirklich hier. Und du fühlst dich geehrt.

Ich kam an mit gebrochenem Herzen und leerer Brieftasche. So leer, dass ich mir damals für das Bewerbungsgespräch eine Einzelfahrkarte kaufen musste. Mehr gab der Fahrkartomat nicht her. Zum Glück kam im Laufe des Tages eine überfällige Honorarzahlung ein, sodass ich mir die Rückfahrkarte nicht zusammenschnorren musste.

Leute mit Liebeskummer oder anderen Katastrophen in der Vergangenheit kommen hier immer wieder an. Meistens halten sie es nicht lange aus. Hin und wieder gibt es Ausnahmen.

Und ich war vorerst genug mit Staunen beschäftigt.

Ich war jetzt nämlich Gästeführer auf dem Felsen, obwohl ich aus dem Ruhrpott komme. Also wurde die Inselbücherei für einige Monate zu meinem zweiten Wohnsitz.

Die Bücherei sieht mittlerweile auch ganz anders aus, moderner und heller. Trotzdem erinnere ich mich manchmal etwas wehmütig an die alte “Bücherhöhle”.

Wenn das Wetter es erlaubte, konnte ich das Studienmaterial aber auch an den Strand mitnehmen.

Wie alle Habenichtse landete ich in einer Personalwohnung meines Arbeitgebers im Südhafen. Damals wusste ich noch nicht, dass die für hiesige Verhältnisse relativ luxuriös war.

Häuser auf dem Felsen halten manchmal ungewöhnliche Überraschungen oder Hinterlassenschaften bereit. Das liegt unter anderem daran, dass viele Menschen bei der Rückreise zum Festland ihren Kram hier einfach liegenlassen. Ansonsten muss man den nämlich vom Zoll inspizieren lassen und das kann kompliziert sein.

Nach kurzer Zeit wurde mir allerdings auch klar, dass ich in einer Art WG gelandet war. Das war zeitweise gewöhnungsbedürftig, obwohl ich außerordentlich WG-erfahren bin. Aber dies war eine dedizierte Männer-WG. Später nannte ich sie auch die Murakami-Appartments.

So ein Murakami-Appartment kann ganz lustig sein.

Naja, je nachdem, was man als lustig empfindet. Manchmal kommt man nach Hause und in der Küche findet gerade eine Headbanger-Party statt. So what? Man muss ja nicht jeden Quatsch mitmachen ;-) . Es gibt andere, tollere Erlebnisse.

Das praktische an Männer-WGs? Man kann sich aufführen, als sei man immer noch 13 Jahre alt, ohne komplizierte Fragen von diesen komplizierten Frauen zu beantworten. Das unpraktische?

Tja. Keine Frauen. Aber ich war sowieso nicht auf eine entlegene Insel gezogen, um eine neue Romanze zu suchen.

Und das ist auch das tolle am Beruf eines Gästeführers: Jede Menge soziale Interaktion, viele interessante Leute, aber keine “Komplikationen”. Gekuschelt wird nicht ;-) .

Abgesehen davon, dass irgendwann doch wieder alles anders kam.

Wenn ich in meinem Bild-Archiv blättere, staune ich gelegentlich, wie viele Dinge sich inzwischen verändert haben.

Das war bis 2016 (?) das einzige Verkehrsschild auf der Insel, unten am Fuß des Milstätter Wegs (oder, wie man hier sagt, des Düsenjägerpfades). Ok, es war schon ganz schön abgerockt, aber als es dann eines Tages abgebaut war, fand ich es doch schade. Da konnte man nämlich immer so schön die Sache mit dem Paragraf 50 erklären.

Oder das zweisprachige Schild an der Polizeiwache in der Hafenstraße, auf deutsch und helgoländisch. Das war laut Inselfunk bei manchen Gäste-Honks so beliebt als “Mitnehmsel”, das die Sheriffs irgendwann keine Lust mehr hatten, es zu ersetzen. Schade.

Der alte Lagerschuppen an der Hafenstraße existiert auch nicht mehr. Vor zwei Wochen wurde er abgerissen. Ja, er war alt und verwittert und nicht mehr ganz dicht. Aber das bin ich ja auch.

Die Crew-Schiffe der Windenergie-Firmen gibt es zwar immer noch, aber es sind deutlich weniger geworden. Als ich hier ankam, waren die Bauarbeiten an den Windparks gerade in vollem Gange und die CTVs stapelten sich in sämtlichen Hafenbecken wie Paketdienst-Autos in einer Großstadt.

In den ersten zwei Jahren bin ich noch mit der alten “Atlantis” zum Festland gefahren. Nachdem sie durch die heutige “MS Helgoland” abgelöst war, wurde sie noch ein paar mal zwischen diversen Reedereien hin- und hergeschoben und wird inzwischen in einem türkischen Schiffsfriedhof auseinandergesägt.

Verschwunden sind auch die letzten Telefonzellen, von denen es hier bis 2018 noch zwei Stück gab. Die Insulaner hatten da schon eine alternative Nutzung für gefunden, aber dann wurden sie doch durch magentafarbene “Marterpfähle” ersetzt.

Ich weiß, im Vergleich zum Festland sind das nur Kleinigkeiten. Aber es ist auch eine kleine Welt.

Ich kann mir kaum noch eine andere vorstellen.

Drinnen und Draußen

Geschätzte sechs Wochen sind es nun, seitdem wir mehr oder weniger verbindlich zum Stubenhocken ermutigt, aufgefordert oder gar verdonnert sind (letzteres eher im Ausland).

Fe und ich sind sowieso begnadete Stubenhocker und unsere Ausflüge sind inselbedingt meistens auf die Ausmaße des Felsens beschränkt. Selbst bei allem Ehrgeiz kann man nicht mehr als zwei Kilometer zurücklegen, ohne wieder an irgendeiner Wasserkante zu stehen. Sollte also keinen großen Unterschied ausmachen.

Trotzdem fühlt es sich wie ein Unterschied an. Es ist so, als säße ich unten am Siemensplatz vor einer superduper Pizza Quattro Formaggio und dann sagt der Kellner streng: “Die musst du jetzt aber ganz aufessen!”

Stubenhocker hin, Lockdown her, Lummenfelsen geht natürlich immer.

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Auf der Westseite wird schon eifrig bebrütet.

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Gegenüber auf der Ostseite wird das Grünzeug für den Nestbau geerntet.

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Nachmittags nach dem Einkaufen sitze ich dann an der Landungsbrücke und schaue auf die verlassenen Hotels. Sieht aus wie im Winter, nur ohne Sturm. Ganz normal. Aber es ist Ende April.

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Kein Schiff auf der Binnenreede, nur ab und zu ein einsamer Crew Transport der Windkraft-Techniker.

Selbst der Himmel über Helgoland ist anders. Der Felsen liegt unter den Flugrouten von Amsterdam und London in Richtung Skandinavien.

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Zur Zeit ist ein Kondensstreifen am Himmel jedoch eine kleine Sensation. Damit könnte ich eigentlich leben, wenn ich nicht wüsste, dass viele Menschen, die für Fluglinien oder Flughäfen arbeiten, jetzt kaum noch ein und aus wissen.

Vielen Insulanern geht es ähnlich, weil die Pläne der Gemeindeverwaltung vorsehen, den Inseltourismus nur seeehr vorsichtig und stufenweise wieder zuzulassen. Insel-Ökologien sind fragil.

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Manche nehmen es mit Galgenhumor wie einer unserer Nachbarn.

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Und es gibt ja auch gute Nachrichten. Die Inselbücherei hat wieder geöffnet. Nur… anders.

Ich schicke der Bibliothekarin vorab eine SMS: “Erschrick bitte nicht, wenn ich mit einem Schal im Gesicht vor der Tür stehe.” Sie antwortet: “Erschrick du bitte nicht, wenn ich mit einer Maske im Gesicht am Schreibtisch sitze ;-) .”

Dann stehen wir da und können uns ein albernes Kichern nicht verkneifen. Es ist ein wenig, als würde man sich unvorbereitet auf einer Party mit albernen Hütchen auf dem Kopf begegnen. Lachen mit Vermummung ist übrigens schwierig. Das bringt alles ins Rutschen.

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(Nein, dieses, ähhh, hübsche Foto stammt nicht aus der Bücherei, sondern von einer lustigen Hochzeitsfeier vor etwa eineinhalb Jahren.)

Davon abgesehen gibt es aber einen äußerst unalbernen und sinnvollen Plan. Wer selber in den Bücherregalen stöbern will, bekommt Einmalhandschuhe und zurückgegebene Bücher kommen mindestens 24 Stunden lang in Quarantäne.

Es hat sich nämlich herausgestellt, dass die vermaledeiten Viren – entgegen allem, was man vermuten würde – auf Papier wesentlich kürzer überleben als auf Metall oder Plastik. Noch nie fand ich es so sympathisch, dass jemand Bücher nicht mag.

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Eines der neuen Bücher stammt von unserer Pastorin. Super Lesestoff und für mich voller Aaach-ich-dachte-so-was-passiert-nur-mir-Erlebnisse.

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Da wir nur wenige Meter von der Kirche entfernt wohnen, laufe ich beim Einkaufen immer an ihrem Haus vorbei. Nach Gottesdienst als Livestream und Segen per Straßenkreide gibt es jetzt auch Segen-to-go zum Selberpflücken. Man muss sich halt was einfallen lassen mit dem Verkündigungsauftrag auf Distanz.

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Ich bin zwar ganz schön religiös aufgezogen worden (Geschmacksrichtung Katholik), aber seit gut vierzig Jahren habe ich keinen Segen mehr empfangen. Jetzt hängt er bei uns am Wohnzimmerschrank zwischen allerlei profanen Erinnerungsstücken. Thanks, Reverend ;-) .

flyer silvester 2019

Mein Blick fällt auf die Einladungskarte, die ich vor ein paar Monaten für die Silvesterparty der Hexenhausbande auf dem Festland gezeichnet habe. Kurz überlege ich, ob ich nicht ein neues Bild malen sollte, so à la “Liebes 2019, komm bitte bitte wieder zurück! So sch…. warst du ja gar nicht!”

Aber das ergibt natürlich keinen Sinn. Mein Gefühl sagt mir, dass es so oder so gekündigt hätte. Vielleicht sollte ich mal 2016 anrufen. Oder 1995.

Das fremde Land

Eigentlich ist es nichts Besonderes: Dieses Land besteht aus Erinnerungen und es ist einfach viel Zeit vergangen.

Das Stahlwerk, in dem ich das erste Geld fürs erste Auto verdient habe, ist jetzt ein Industriedenkmal.

Die Kneipe, in der ich das erste Geld mit meinen Kumpels versoff, hat noch das gleiche Schild und die gleiche Fassade, aber drinnen sitzen jetzt alte Männer (wie ich) und schweigen in ihr Bier.

Das Kino hat schon lange geschlossen. Mein Gott, da habe ich mal im Auto geknutscht.

Die Gesternwelt verstellt mir den Blick auf das Heute.

Das fremde Land, dort, wo ich aufgewachsen bin.

Ende Neu

(Disclaimer: Es geht hier nicht um das Alterswerk der Einstürzenden Neubauten. Naja, indirekt vielleicht auch, aber jedenfalls ging mit dieser Titel nicht mehr aus dem Kopf.)

Hallo hallo hallo?

Hört mich noch jemand? Ein Blog, das seit einem halben Jahr nicht mehr aktualisiert wurde, checkt ja kein normaler Mensch mehr. Ist halt sanft entschlafen.

Manchmal ist es aber komplizierter:

Sommer 2018.

Ich kündige meinem Arbeitgeber der letzten vier Jahre. Damals hat er mich aus einer schlimmen persönlichen und finanziellen Klemme herausgeholt und ich war ihm vier Jahre dankbar dafür, aber jetzt ist Zeit für einen Tapetenwechsel.

Fe hat inzwischen ihre Versetzung durch zwei Kultusmysterien abgesegnet bekommen. Also fahre ich aufs Festland, um zu helfen, einen Umzug zu organisieren. Auch auf dem Festland hat es seit Monaten nicht mehr geregnet und das Herzberg-Open-Air, das letztes Jahr ziemlich matschig war, staubt dieses Jahr ein wenig.

Schön wars trotzdem. So schön, dass wir eine Woche später nochmal zur Wiese fahren. Melancholie.

Aber danach haben wir Umzugskisten zu packen.

Dann geht es erstmal wieder auf die Insel, denn Fe muss ihre Arbeit antreten. Da wir noch keine Wohnung gefunden haben, mieten wir uns in einer etwas abgerockten, aber trotzdem-deshalb schönen Ferienwohnung ein.

Und damit beginnen ein paar Monate nomadischen Daseins.

Fe’s altes Haus ist vergleichsweise riesengroß und vollgestopft mit Erinnerungsstücken. Als diese eingekistet sind, ist es ein Haus voller Kisten und wir übernachten auf diversen befreundeten Sofas, mehr oder weniger geduldet von den Stammbewohnern ;-) .

Inzwischen haben wir eine Wohnung auf dem Felsen gefunden. Es fehlen aber noch ein paar Details.

Manche Leute nennen die “Möbel”.

Es gibt einiges zu verhandeln mit der Spedition. Jepp, Spedition. Früher bedeuteten Umzüge immer: Mietauto besorgen, Freunde zum Ein- und Ausladen verhaften. Jetzt brauchen wir eine Spedition, und zwar eine, die auch übers Wasser nach Helgoland fährt. Davon gibts in Deutschland… eine.

Spätestens jetzt ist wohl klar: Niemand lebt zufällig auf dem Felsen oder weil Bottrop zu kompliziert zu erreichen war (nichts gegen Bottrop!). Ein bisschen wollen muss man schon.

Wahrscheinlich deswegen.

Und deswegen. Das sind eigentlich Fotos vom Busbahnhof und von der Fußgängerzone.

Wer das nicht schön findet, bleibt besser auf dem Festland, darf uns aber gerne im Sommer besuchen.

Es ist so eine Sache, hier Wurzeln zu schlagen.

Vor ein paar Monaten meinte ein früherer Arbeitskollege: “Helgoland ist der Ort für die, die es auf dem Festland nicht schaffen.”

Ich war angep***t, aber trotzdem wartete ich zehn Atemzüge lang, bevor ich antwortete: “Nee, mein Junge, das Festland ist der Ort für die Leute, die es hier nicht schaffen.”

Während des Festlandaufenthaltes waren wir noch zu einer Hochzeit eingeladen. Die war ganz prima und hatte unter anderem einen Quatschfoto-Automaten. Mit diesem Blogeintrag hat das eigentlich nichts zu tun – außer dass es trotzdem dazu gehört. So richtig erklären kann ich es auch nicht.

Möglicherweise ist dieses Blog an seinem Ende angelangt. Das Motto”I’m a rock, I’m an island” war 2014 sehr zutreffend.

Heute ist alles ein wenig besser und komplexer.

And so it goes, wie der gute Kurt Vonnegut zu sagen pflegte.