Wahlsonntag

Wahlkämpfe auf Helgoland sehen anders aus als auf dem Festland.

Erst heute finden sich einige verschämte Wahlplakate rund um mein Wahllokal und – ich habe nichts vermisst. Auf Helgoland dürfen Plakate ohnehin nur die Größe eines Din A-4-Blattes haben. Erst am Wahltag werden normalgroße Plakatständer aufgestellt. Große Werbeflächen gibt es hier auch nicht.

Also bleiben die Helgoländer von Konterfeien irgendwelcher Politiker weitgehend verschont und dürfen sich auf das Wesentliche konzentrieren – Inhalte.

Auch anders als auf dem Festland – es bilden sich keine Schlangen vor dem Wahllokal. Im Gegenteil – ich werde gleich von drei freundlichen Wahlhelfer*innen begrüßt, denn ich bin die Einzige, die gerade einen Teil ihrer persönlichen Entscheidungsgewalt auf einen zukünftiges Mitglied des Bundestages überträgt.

Und noch etwas ist anders: Man grüßt sich mit dem Helgoländer ‘Du’; ein ‘du’, das so ähnlich funktioniert wie das englische ‘you’ oder das dänische ‘du’.

Anschließend Spaziergang zu meinem Platz:

Ganz unwahrscheinlich blau liegt die See zu meinen Füßen.

Am Wegrand finde ich einen letzten Löwenzahn.

Der Blick nach Westen und Norden – in ein Nichts.

Ich mag es, wenn Himmel und Meer ineinander verschwimmen und Hochzeit halten.

Ich denke über die Zerbrechlichkeit des Lebens nach – und ‘sehe’ für einen kurzen Augenblick zwei große Füße mit sehr langen Zehen neben mir. Ich lächele und habe Rauch in den Augen…

Die Basstölpel sind in der letzten Woche weitgehend abgereist.

Nur eine letzte Nachhut wartet noch auf die Jüngsten der Kolonie.

Auch ich werde die nächsten Wochen reisen –

aber ich bin schon bald wieder zurück.

Youngster

Der erste Tag in Socken und festen Schuhen –

noch kann man draußen eine Weile sitzen – auch wenn die Erde nicht mehr so viel Wärme spendet.

Am Horizont liegen wie Geisterschiffe die Containerfestungen, die auf den Ruf aus Hamburg warten.

So spart man Geld, denn die Außenreede vor Helgoland kostet nichts.

Ganz zart ein Silberstreif am Horizont – ganz zart auch der Strahlenmantel, den der eigenartige Stern wirft, den wir Sonne nennen.

Die jungen Basstölpel vertreten sich die Füße. Es scheint auch unter Jungvögeln außerhalb des Nestes interessanter zu sein als bei den Alten.

Und die Flügel wollen probiert werden. Auch die geistigen….

In der Schule denken wir gerade über Sprache nach.

J. hat seine Stirn in Falten gelegt und brütet über Nomen.

Ich: “Worüber denkst du gerade nach?”

J.: “Also ‘Kapitän’. – Das sind ja immer Menschen. Aber ‘Kapitän’ ist ja auch was, was sich Menschen ausgedacht haben. In welche Spalte gehört das jetzt?”

Ich: “Welche Spalten kommen denn für dich in Frage?”

J zeigt auf die Spalte ‘Lebewesen’ und die Spalte ‘Gedanken’.

Ich: “Prima. Schreib’s in beide Spalten.”

Der letzte Sommervollmond rundet sich gerade – und ist schon so herbstlich wie …..

I wish ……

Arbeiten auf Disneyland

Septemberalltag auf einer Insel –

ganz leise und allmählich gehen die Gästezahlen zurück.

Unter mir ist es wieder ruhig geworden. Die Handwerker meines Vermieters haben ihren Auftrag zu Ende gebracht.

Tatsächlich hatten wir in der letzten Zeit einige ‘südliche’ Tage.

Dennoch das Licht hat sich deutlich geändert.

Am Himmel ziehen wieder mehr Wolken –

und im Gras des Oberlandes findet sich mehr und mehr Abgeblühtes.

Wenn ich jetzt morgens aufstehe, ist es noch dunkel. Ich schaue dem werdenden Tag mit einer Tasse Kaffee zu, bis es Zeit ist, sich für die Schule fertig zu machen.

Auch auf dem Vogelfelsen schließt sich langsam der Zyklus:

Die Jungen sind fast flugreif.

Der eine oder andere probiert sich schon aus.

Und der Wind, der die Basstölpel bald raus auf’s offene Meer ziehen wird, hat wieder zugenommen.

Jetzt fallen sie nicht mehr einfach -plumps – neben ihre Niststelle (die Basstölpel sind nicht gerade bekannt für elegante Landemanöver ;-)).

Sie stehen wieder vorher einen kurzen Moment im Wind.

Gestern habe ich zwei Päckchen an Freunde und Familie losgeschickt und gemerkt, dass ich lange nicht beim Zoll war.

Jetzt muss man ALLES verzollen – auch selbst gestrickte Socken für eine Freundin. Uiih!

Der junge Mann, der diese Richtlinie umsetzen musste, war geduldig mit meinem offenen Unwillen. Während des ganzen Hin- und Hers – Zettel ausfüllen, Wertangaben machen, Gebühren ausrechnen – schaut er mir irgendwann in die Augen und sagt: “Glauben Sie, dass mir das Spaß macht?” –

Ich blicke in ein zartes Vollmondgesicht und freundliche Augen. “Nein”, ich schüttele den Kopf. “Tut’s auch nicht”, antwortet er – und jetzt habe ich langsam Mitgefühl mit ihm und denke an die Unsinnigkeiten, die ich schon in meinem Job machen musste.

‘Okay’, denke ich, während mein Gegenüber mir erklärt, dass das Ganze auf eine neue Bestimmung vom 1.07. zurückgeht, nach der tatsächlich ALLES verzollt werden muss, ‘ich zahle dann halt zweimal Mehrwertsteuer’. Denn ich gehöre nicht zu denen, die bei jeder Rechnung die Befreiung von derselben geltend machen.

Später hole ich mir eine Frustzigarette bei einem Bekannten, dessen Geschäft auf meinem Heimweg liegt. Ich muss die neue Story doch erstmal loswerden.

Dann kommen Kunden. Ich verabschiede mich: “Ich geh’ mal. Du musst jetzt arbeiten.” – Die Kunden lachen sich halb kaputt. “Aaarrrbeiten?” –

“Ja”, sage ich, “arbeiten. Hier leben ganz normale Menschen, die arbeiten, damit Sie hier Urlaub machen können.” –

Liebe Helgoland-Gäste,

Helgoland ist kein Disneyland. Es ist ein kleiner Fleck im Meer – einer der abgefahrendsten Orte der Welt. Ein paar Verrückte leben hier, weil es hier tatsächlich schön ist, auch wenn ihr nicht da seid.

Das Leben hier ist nicht easy-peacy, wie es sich von außen darstellen mag. Hinter jeder Leichtigkeit steckt Übung und viel Erfahrung. So ist es auch hier:

Jedes Bett, das frisch gemacht ist, wurde von jemandem hergerichtet.

Jedes schön angerichtete Menu hat jemand vorher zubereitet.

Jeder locker erzählte Geschichte Helgolands wurde in langen Stunden zusammengelesen, geistig verdaut, um sie später einer Gästegruppe zu präsentieren.

All die dienstbaren Geister, die ihr nicht seht, arbeiten dafür, dass Gäste auf Helgoland urlauben können. – Und nach der Arbeit schlurfen sie nach Hause,

essen etwas, sind noch in Familie oder vor dem Fernseher, fallen ins Bett –

oder zünden noch eine Kerze an.